Unsere Grundlage:
Was braucht das Kind?
„Wo Heilung beginnt, Menschlichkeit lebt und Zukunft gestaltet wird.“
Sozialwerk Winterstein
Der Begriff „Pädagoge“ leitet sich vom altgriechischen Wort ὁ παιδαγωγός (ho paidagogós) ab. Ursprünglich bezeichnete dieser Ausdruck eine Person—häufig in einer dienenden Position—die Kinder auf dem Weg zu ihrem Lehrer begleitete (von παῖς „Knabe“, „Kind“ und ἄγειν, ἀγω „führen“, „ich führe“). Mit der Zeit umfasste diese Rolle auch Aufsicht, Erziehung und Bildung.
Doch was ist Pädagogik, wenn nicht ein steter Wegbegleiter? Sie ist weit mehr als eine Methode oder ein pädagogisches Konzept. Pädagogik ist ein Akt der Hoffnung, ein lebendiges Bekenntnis zum Vertrauen in das Veränderbare, das Werdende im Menschen. Sie ist ein feines, unsichtbares Band aus Begegnung, Verantwortung und Zugewandtheit—gesponnen in den Lebensgeschichten jener, die wir begleiten dürfen.
In einer Welt, die von Leistungsdruck und Effizienzdenken geprägt ist, rückt unsere Leitfrage in den Mittelpunkt: Was braucht das Kind wirklich? Hier beginnt der Raum, in dem wir Heilung ermöglichen, Menschlichkeit bewahren und Zukunft gestalten können.
Ehrfurcht vor dem Leben –
Die Ethik unseres Handelns
Von Albert Schweitzer bis Yecheskiel Cohen:
Menschlichkeit als gelebte Verantwortung
Die Ethik von Albert Schweitzers hat uns geprägt, dessen Gedanke der „Ehrfurcht vor dem Leben“ unser praktisches Handeln leitet. Diese Ehrfurcht ist tief in Schweitzers christlicher Überzeugung verwurzelt und spiegelt seine Haltung wider, dass jedes Leben heilig ist und mit Respekt und Mitgefühl behandelt werden muss. Schweitzer war nicht nur ein herausragender Theologe und Philosoph, sondern auch ein engagierter Arzt, der sein Leben dem Dienst an den Menschen in Lambaréné, Gabun, widmete. Sein unermüdlicher Einsatz für die Ärmsten der Armen, sein medizinisches Wirken in Afrika und seine visionären Schriften zur Ethik des Lebens brachten ihm 1952 den Friedensnobelpreis ein. Doch sein Vermächtnis geht weit über diese Auszeichnung hinaus: Er verkörperte die Überzeugung, dass wahre Humanität im aktiven Handeln für andere liegt. Schweitzers Philosophie inspiriert uns, in jedem Kind das unantastbare Wunder des Lebens zu sehen und es mit Respekt, Fürsorge und echter Zuwendung zu begleiten, getragen von der Gewissheit, dass jede Form von Leben wertvoll ist.
„Ich bin das Leben, das leben will,
inmitten von Leben, das leben will.“
Albert Schweitzer
Die zweite Geburt
Die zweite Geburt – Ein Filmprojekt der Ärztlichen Akademie für Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen e.V. in Zusammenarbeit mit Bilderfest GmbH
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Mehr InformationenIn jüngerer Zeit hat Yecheskiel Cohen unsere Arbeit bereichert. Yecheskiel Cohen (1932–2021) war ein Psychoanalytiker, Psychologe und Pädagoge, der über vier Jahrzehnte ein therapeutisches Kinderheim in Jerusalem leitete und ein innovatives Behandlungskonzept für schwer traumatisierte Kinder entwickelte. Im Zentrum seines Ansatzes steht die Vorstellung, dass nicht das Kind sich an die Institution anpassen muss, sondern umgekehrt die Institution an die Bedürfnisse des Kindes. Erziehung verstand er als „Entwicklungshilfe“, die hergebrachte Denkweisen radikal infrage stellt.
Seine pädagogische Theorie wird in fünf Säulen zusammengefasst, die die Basis der modernen Traumapädagogik bilden:
Beziehung und Empathie
Eine stabile, vertrauensvolle Beziehung zwischen Kind und Betreuenden ist die Grundlage jeglicher pädagogischen Arbeit. Cohen betont die kontinuierliche Beziehungsarbeit, die von Wertschätzung, Verlässlichkeit und echtem Mitgefühl geprägt ist. Ziel ist es, emotionale Sicherheit zu vermitteln, um es dem Kind zu ermöglichen, Vertrauen zu fassen und sich zu öffnen.
Struktur und Vorhersehbarkeit
Traumatisierte Kinder benötigen klare Strukturen und einen vorhersehbaren Alltag. Feste Absprachen, Rituale und klare Regeln schaffen Halt und Orientierung. Diese äußere Stabilität dient dazu, innere Unsicherheit zu mindern und die Angst vor dem Unbekannten zu reduzieren.
Kontinuität
Beständigkeit in Beziehungen und der Umgebung ist ein zentraler Pfeiler in Cohens Ansatz. Kinder sollen langfristige, verlässliche Bindungen erleben und nicht aufgrund herausfordernden Verhaltens „abgeschoben“ werden. Stattdessen wird die Umgebung an die Bedürfnisse des Kindes angepasst und gemeinsam nach Lösungen gesucht. So entsteht Geborgenheit und ein nachhaltiges Vertrauensverhältnis.
Verstehen statt Strafen
Verhaltensauffälligkeiten sind Ausdruck inneren Erlebens und sollten als solche verstanden werden. Statt Symptome zu bestrafen, setzt Cohen auf ein einfühlsames Verständnis: Welche Botschaft steckt hinter dem Verhalten des Kindes? Die Erwachsenen müssen lernen, ihre Perspektive anzupassen und mit dem Kind gemeinsam Wege zu finden, mit seinen Erfahrungen umzugehen.
Elternarbeit und Einbindung des Umfeldes
Trotz stationärer Unterbringung werden Eltern aktiv einbezogen. Statt in Konkurrenz zur Herkunftsfamilie zu treten, wird eine Erziehungspartnerschaft angestrebt. Eltern erhalten Unterstützung, um das Verhalten ihres Kindes besser zu verstehen, während das Kind lernt, auf seine Bezugspersonen angemessen zu reagieren. Dieses Prinzip stärkt die Eltern-Kind-Beziehung und sorgt für nachhaltige Entwicklungen.
Cohens Ansatz verbindet psychoanalytische Theorie mit pädagogischer Praxis.In dem von ihm geleiteten B’nai B’rith Kinderheim in Jerusalem wurden Therapie und Alltagserziehung nahtlos integriert. Multiprofessionelle Teams aus Pädagoginnen, Therapeutinnen und Lehrerinnen arbeiteten gemeinsam daran, traumatisierten Kindern einen geschützten Entwicklungsraum zu bieten.
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Die zentrale Idee ist die Schaffung eines sicheren „Beziehungsraums“ – eines Potenzialraums, in dem jede Alltagssituation als therapeutische Gelegenheit genutzt wird. Ob beim Essen, Spielen oder Zubettgehen – all diese Momente haben pädagogisch-therapeutische Relevanz. Das gesamte Umfeld der Einrichtung wird auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtet, um einen heilsamen Entwicklungsprozess zu ermöglichen.
Yecheskiel Cohen lehrte, dass Heilung nicht durch Verdrängung oder Vergessen geschieht, sondern durch das mutige Anerkennen und Integrieren des Erlebten. Besonders beeinflusst von Donald Winnicott, betonte er die Bedeutung von Bindung und Nachreifung. Ein Kind soll nicht „repariert“, sondern in seiner Entwicklung begleitet werden, um seine eigene Geschichte annehmen und daraus Kraft schöpfen zu können.
Dieser Ansatz findet sich auch in unserer Arbeit wieder: Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, die Spuren des Leids zu verwischen, sondern dem Kind zu helfen, diese als Teil seiner Biografie zu begreifen. Dazu braucht es ein Umfeld, das Schutz bietet, körperliche, seelische und emotionale Versorgung gewährleistet, Geborgenheit vermittelt und Raum zur individuellen Entwicklung schafft.
Das Beste für das Kind – Unser Anspruch
Eine Gesellschaft misst sich daran, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht
Unser Anspruch leitet sich von der Präambel der Erklärung der Rechte des Kindes von 1959 ab, dort heißt es: „Da die Menschheit dem Kind das Beste schuldet, das sie zu geben hat …“ Diese Worte sind nicht nur ein Appell, sondern ein humanitäres Fundament, das unser Handeln prägt. Sie verdeutlichen die universelle Verpflichtung, Kindern nicht nur Schutz und Fürsorge zu gewähren, sondern ihnen die bestmöglichen Voraussetzungen für eine gesunde, sichere und würdevolle Entwicklung zu bieten.
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Diese Haltung wurzelt in der Überzeugung, dass das Maß einer Gesellschaft nicht an ihrer wirtschaftlichen Stärke oder technologischen Entwicklung gemessen wird, sondern daran, wie sie mit ihren schwächsten Gliedern umgeht. Gustav Heinemann formulierte es treffend: „Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glieder verfährt.“ Dieses Prinzip ist der moralische Kompass unserer Arbeit, der uns daran erinnert, dass die Fürsorge für Kinder nicht nur eine Aufgabe, sondern eine grundlegende Verpflichtung ist.
Am Ende geht es nicht um Methoden, sondern um Begegnung. Um den Moment, in dem ein Kind zum ersten Mal wieder lacht. Um einen Blick, der sagt: „Ich sehe dich.“ Und um das leise, fast unhörbare Flüstern der Hoffnung, das in jedem Kind lebt – egal wie dunkel die Nacht war.